Jahresveranstaltung initiative.ulm.digital e.V.

Emotion klickt besser als Information

Social Media & KI – Fluch oder Segen? Die Jahresveranstaltung der initiative. ulm.digital war emotional. Es fielen markige Sprüche, es wurde offen über Enttäuschungen gesprochen, Best Case Beispiele sorgten für Schmunzeln. Am Ende kam Gänsehaut auf – angesichts eines Livestreams zu einem ukrainischen Musiker im Schutzbunker in Charkiw.

Im wie immer vollbesetzten Wiley Club versprach Heribert Fritz „einen bunten Blumenstrauß“ an Themen. Der Vorstand der initiative.ulm.digital e.V. hielt Wort. Wie sich KI in Verbindung mit Social Media auf Gesellschaft, Politik und Wirtschaft auswirkt, wurde in mehreren Speed-Talk-Runden unter der Moderation von SWP-Chefredakteur Ulrich Becker leidenschaftlich diskutiert.

„BILDZEITUNG AUF SPEED“

Gleich die erste Expertenrunde fuhr große Geschütze auf: „Früher hieß es: Je wohlhabender eine Gesellschaft, desto klüger. Seit 2008 stimmt das nicht mehr. Es war das Jahr, als Facebook viral ging“, so IT-Unternehmer Chris Boos. Der KI-Vordenker war enttäuscht, dass sich Wissen nicht demokratisieren lasse. Laut Boos halten die Neuen Medien Menschen vom eigenständigen Denken ab, um sie stattdessen in einem Gefühl zu halten.

Eine Aussage, die durch Experten wie Professor Wolfgang Schweiger von der Universität Hohenheim bestätigt wurde. „Social Media ist wie Bildzeitung auf Speed!“. Es käme nicht mehr auf den Wahrheitsgehalt einer Meldung an, sondern auf ihre Emotionalität. Unterhaltung wie Cat Content oder empörende Fake News würden stärker verbreitet, als normale, vergleichsweise dröge anmutende Nachrichten. „Aus dem Riesenwust an Informationen picken wir uns das heraus, was uns interessiert, ob es relevant ist oder nicht.“ Der Ulmer Professor Frank Kargl brachte ähnliche Überlegungen ein. „Mit Full Speed bauen wir überall im Alltag KI ein. Aber wir kennen weder ihre Schwachstellen, die eine Manipulation ermöglichen, noch sind alle ethisch-moralischen Fragen geklärt.“

Für Applaus sorgte die Aussage der 24-jährigen Influencerin und Medizinstudentin Aurelia Heinz. Mehrere hunderttausende Follower verfolgen den Alltag der Ulmerin zwischen Arztkittel und Schminktipps. Dennoch: „Wenn ich es könnte, würde ich Social Media abschalten.“ Denn es erfordere viel emotionale Reife, um damit verantwortungsvoll umzugehen. Von kritischen Punkten wie Hate Speech oder schwindender Aufmerksamkeitsspanne ganz zu schweigen. Für Unternehmen hatte sie einen Rat, um die Gen Z besser zu erreichen. „Vieles wirkt viel zu gewollt, zu überdacht.“ Besser sei, sich auf Social Media authentisch zu geben.

MILLIONEN KLICKS FÜR ULMER UNTERNEHMEN

Neben all den berechtigten Sorgen kamen auch Witz und Optimismus nicht zu kurz. Der Vorstandvorsitzende der Sparkasse Ulm, Dr. Stefan Bill, stellte das erfolgreichste Reel seiner Bank vor mit 1,1 Millionen Views. „Finanzdienstleistungen haben einen sehr überschaubaren Unterhaltungswert. Um 20 Prozent Informationen über Social Media transportieren zu können, posten wir 80 Prozent Unterhaltung.“ Besagtes Reel koppelt aktuelle Zeitgeistthemen (Homeoffice) mit regionalen Besonderheiten (Ulmer Weinfest) und der Sparkasse auf amüsante Art. Lohn: 15.000 Follower.

Vom eigenen Erfolg überrascht war Philipp Utz von Uzin Utz, einem Ulmer Komplettanbieter von Bodensystemen. Über 15 Millionen Klicks erhielt ein im Schnellverfahren gedrehtes Reel, das zeigt, wie ein Boden saniert wird. Es fällt in die beliebte Rubrik der To-Do-Videos. Utz witzelte: „Dabei gibt es gar keine 15 Millionen Parkettleger in Deutschland. Aber vermutlich 15 Millionen Ehefrauen, die zu ihrem Mann sagen: Das könntest du auch.“ Als weitere Redner kamen Petra Engstler Karrasch, Hubert Ketterer, Michael Fiedler und Andreas Buchenscheit zu Wort, ebenso wie die OBs von Ulm und Neu-Ulm. Letztere diskutierten, inwieweit sich Politiker auf Social Media einbringen sollten. Während Kathrin Albsteiger (10.000 Follower) auch Persönliches von sich postet, von ihrer Siegerehrung beim Einsteinmarathon bis zum Urlaubs-Selfie, sieht sich Martin Ansbacher (4.700 Follower) als reinen „Ulmfluencer“.

VERBINDEN STATT TRENNEN

Es war der emotionale Höhepunkt des Abends! Eine Live-Schaltung in die Ukraine verdeutlichte den positivsten Aspekt der neuen Technologien: Menschen über Tausende Kilometer zusammenzuführen, um sich auszutauschen und zu unterstützen. Rüdiger Linhof stellte seine Initiative „Kultur.Konvoi“ vor. Der Bassist der Band „Sportfreunde Stiller“ finanziert gemeinsam mit anderen Musikern Rettungswagen für die Ukraine, schaltet junge Künstler aber auch per Livestream zu Veranstaltungen hinzu. „Es geht darum, anzuerkennen, dass es auch andere Realitäten gibt.“ Neben der humanitären Hilfe komme es auf echte Kooperationen an. Aktivistin Martha geht gegen Fake News in der Ukraine vor und zeichnet ein Bild von einem Land, in dem trotz Krieg Start-ups und Familien gegründet werden. Musiker Alex performte auf emotionale Weise den Song „Wonderwall“ von Oasis im Livestream. Aus einem Schutzbunker in Charkiw heraus, wo er jeden neuen Tag als Geschenk erlebe. Dies war der Abschluss einer Jahresveranstaltung, die das Publikum sichtlich bewegte. dwi

Fotos: Moritz Reulein